Rüsselsheim im Dezember des Jahres 1936. Das Lokal befindet sich, wie man zu sagen pflegt, in allerbester Lage. Im Herzen des kleinen Städtchens, direkt gegenüber dem Bahnhof. Und, noch weitaus wichtiger für einen guten Umsatz, nur einen Steinwurf vom Hauptportal der großen Opel-Werke entfernt. Hier rollten nicht nur Autos vom Band, nein seit 1927 war man auch der weltgrößte Fahrradproduzent!
Wenn die Sirene auf dem Fabrikhof den Beginn der Pause signalisierte, dann dauerte es nicht einmal mehr 5 Minuten bis die großen Speisesäle des „Rüsselsheimer Hofs“ meist bis auf den letzten Platz besetzt waren. Das galt für die Frühschicht genauso wie für die Normalschicht. Nur wenn die Spätschicht ihre Pause hatte war der Andrang nicht ganz so groß.
Dafür hatte man in den frühen Abendstunden wieder mehr „normale“ Gäste zu verköstigen. Kurzum: Das Lokal war eine Goldgrube. Aber es machte seinem Besitzer auch viel Arbeit. Urlaub war für ihn und seine Frau ein Fremdwort. Schon seit Jahren waren sie nicht mehr gemeinsam in die Berge gefahren. Immer war das Geschäft vorgegangen. Oftmals fehlte sogar die Zeit, noch die nötigen Weihnachtsgeschenke rechtzeitig einzukaufen. Und dann kam es zu den berühmten Notkäufen. Hauptsache „mann“ hatte etwas für unter den Baum. Und wenn es total daneben war, konnte es ja nach den Feiertagen wieder umgetauscht werden.
„Wie wäre es denn, wenn du deiner Frau zum Fest einmal ein Fahrrad schenken würdest?“ hatte Karl ihn während seines letzten Besuches gefragt. Klar, der hatte ja auch das Fahrradgeschäft weiter unten in der Straße. Aber warum eigentlich nicht? Wenige Tage später war der Kauf perfekt. Die einzige Bedingung war, Lieferung am heiligen Abend. Und so kam es dann, dass neben dem großen, mit unzähligen weißen Kerzen bestückten Tannenbaum ein wunderschönes Damenfahrrad stand. Mit seiner schwarzen Emaillierung, den feinen grünen Linien und den Wulstfelgen mit einer edel anmutenden Holzmaserung ein echtes Schmuckstück. Der elegant geschwungene, hochglanzverchromte Gesundheitslenker lud förmlich zur Probefahrt ein. Die braunen Bakelit‑Griffe und der Klingeldeckel trugen das gleiche Markenemblem wie das Steuerkopfschild: Ein stilisiertes Kettenblatt mit einer Ellipse und in der Ellipse der Markenname OPEL.
Natürlich trug auch der Rahmen den Schriftzug des Herstellers. Und bei genauer Betrachtung fiel auf, dass Opel sogar die Sättel und Werkzeugtaschen, die Vorderradnaben und selbst die Kettenglieder seiner Fahrräder mit dem Markennamen versehen hatte.
Drei Modelle gab es zur Auswahl
Als es in den 30er Jahren in Mode kam, das Vorderradschutzblech mit einem Symbol zu schmücken, hatten sich die Rüsselsheimer für einen stilisierten Zeppelin entschieden, der seit 1935 die Fahrräder zierte. Bei der Bestellung hatte der Kunde 1936 die Wahl zwischen drei Ausstattungsvarianten:
Modell Blau, das zuverlässige Gebrauchsrad zum Preis von 67,- Reichsmark, Modell Grün, das unverwüstliche Tourenrad für 77,- Reichsmark und das Modell Silber, das schnittige Luxusrad mit dem verwindungssteifen Doppelrohrrahmen für 87,- Reichsmark. Diese Preise galten für die Damenmodelle. Die Herrenräder in den gleichen Ausstattungsvarianten waren jeweils um fünf Reichsmark billiger. Ob es sich um ein Modell Blau, Grün oder Silber handelte, war unter anderem an der Farbe des Steuerkopfschildes zu erkennen, das der Modellbezeichnung entsprechend lackiert war.
Der Gastwirt hatte sich entschlossen, seiner lieben Frau ein Opel‑Grün‑Modell zu schenken. Das Modell‑Silber mit dem dünnen Doppelrohrrahmen war ihm nicht geheuer. Obwohl der Hersteller offiziell von einem Doppelstabilrahmen sprach, hatte er so kein rechtes Vertrauen in diese moderne Rahmenbauart. Es war auch nicht weiter von Bedeutung. Erna war auch mit ihrem Modell Grün glücklich. Ein neues Rad, endlich wieder einmal etwas brauchbares, etwas für sie persönlich. Nicht wie vor zwei Jahren der Sekretär, der zwar auch hübsch war, an dem aber fortan der Herr Gemahl seine gesamte Korrespondenz zu erledigen pflegte. Und ihr altes Fahrrad taugte ja nun auch wirklich nichts mehr. Seit Jahren stand es mit platten Reifen verrostet im Schuppen. Im nächsten Frühling, das hatte sie sich jetzt fest vorgenommen, wollte sie wieder häufiger mit dem Fahrrad fahren.
Doch wie schon in den Jahren zuvor: es fehlte die Zeit. Und so stand nun das neue Rad neben dem alten, im Schuppen, bis dieser eines Tages abgerissen wurde.
Das Opel‑Rad wanderte in den Kohlenkeller
Der rostige Schleifer kam zum alten Eisen, das Opel-Rad erhielt einen Platz in der hintersten Ecke des Kohlenkellers. Dort überdauerte es unversehrt die schweren Bombenangriffe amerikanischer Flugzeuge im 2. Weltkrieg ohne jemals wirklich gefahren zu werden.
Es sollte fast 60 Jahre dauern, bis das gute Stück im Zuge einer Haushaltsauflösung bei den Nachfahren der Familie wieder ans Tageslicht befördert wurde. Verstaubt, angerostet und platt. Aber komplett. Mit Originalsattel, Originalklingel und alles so, wie es das Christkind im Dezember 1936 gebracht hatte. Bis auf die Patina. Die hatte es damals noch nicht.
Anstelle einer Komplettrestaurierung erhielt das gute Stück eine behutsame aber intensive Grundreinigung, bei der große Teile der Linierung und der Schriftzüge gerettet werden konnten. Heute befindet es sich in einer kleinen Sammlung und wird nur ab und zu einmal bewegt. Jeder, der ein derartiges Fahrrad restaurieren möchte, kann sich dieses Rad zur Vorlage nehmen, sozusagen als Referenz-Modell.
Aber das Fahrrad ist, abgesehen von seinem guten Originalzustand, noch aus einem anderen Grund interessant. Es ist nämlich eines der letzten OPEL‑Fahrräder, die in Rüsselsheim gebaut wurden.
Motorisierung hat Vorrang vor Fahrradproduktion,
NSU übernimmt die Rüsselsheimer Fertigung
Spezialisierung, also stärkste Konzentration auf bestimmte Fabrikationszweige war, so glaubte man 1935, für die großen Werke der deutschen Fahrzeugindustrie eine unbedingte Notwendigkeit und damit unerlässliche Voraussetzung zur Lösung der durch die Motorisierung gestellten, vielseitigen und umfangreichen Aufgaben.
Nach reiflichen Überlegungen beschließt daher die Firmenleitung, die Herstellung von Fahrrädern zum Ende des Jahres 1936 aufzugeben. Mit diesem Entschluss wird eine jahrzehntelange Opeltradition beendet. „Er muss gefasst werden“, so die Unternehmensleitung, „um alle verfügbaren Kräfte für die Motorisierung freizumachen, der man sich nunmehr mit aller Energie widmen will. Die in dem Fahrradgeschäft ruhenden Werte gehen nicht verloren. Die NSU‑D‑Rad‑Vereinigte Fahrzeugwerke Neckarsulm ‑ die sich seit Jahren auf das, diesem Unternehmen eigenen Gebiet des Bauens von Fahrrädern und Motorfahrrädern spezialisiert hatten, übernehmen die Rüsselsheimer Fahrradfabrikation und leiten unsere, im Verlauf von Generationen aufgebaute Fahrrad‑ Verkaufsorganisation auf die NSU‑ Fahrradverkaufsorganisation über“.
Tatsächlich läuft die Fließbandfertigung von Fahrrädern bei Opel noch etwa 6 Wochen weiter. Am Sonnabend, dem 13. Februar findet anlässlich des Abschieds vom Fahrradbau ein großer Kameradschaftsabend statt, dessen heiterer Verlauf nicht ohne Wehmut ist. Am Montag den 15. Februar 1937 ist es dann endgültig soweit: Das letzte Fahrrad läuft vom Band. Ein Modell der Blau‑Chromklasse mit der Rahmennummer 2621964.
Heute wissen wir, wie diese Motorisierung Deutschlands kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges gemeint war, und es erscheint fraglich, ob die Aufgabe der Fahrradherstellung wirklich eine freie Entscheidung der Unternehmensleitung war.
Text und Fotos: Jürgen Nöll *3500